
Ohne Zweifel bis heute eines der umtriebigsten Relikte aus der Stunde Null der Berliner Tango-Urzeit ist Michael Rühl. Tänzer und Lehrender seit dem Beginn des europäischen Tangorevivals der 80er, ist er als DJ und Mitinitiator des Berliner Tangofestivals mittlerweile europaweit bekannt. Im Jahr 1996 war es das erste Tangofestival in Deutschland. Es steht bis heute unter seiner Ägide. Seine Sammelleidenschaft in Sachen Musik, Literatur und Memorabilia aus den verschiedenen Epochen des Tango ist legendär und so mancher DJ würde sich ein Bein dafür ausreißen, einmal einen Tag lang in seinem Plattenarchiv eingeschlossen zu werden. Rund fünfzehn Mal hat er in den vergangenen Jahren Buenos Aires und Montevideo besucht und über 8.000 Schallplatten angehäuft. Michael Rühl hat sich daneben in einem Zeitraum, der im Jahr 2009 nun schon ein Vierteljahrhundert umfasst, als einer von wenigen Organisatoren von Tangoevents in der Hauptstadt wirklich be-hauptet, was in dieser unüberschaubar großen Szene, die mehr und mehr von Marktgesetzen dominiert wird, umso schwieriger ist.
Eine große Portion Mut, aber auch Beharrungsvermögen gehören wohl dazu, zwei der interessanteren klassischen Milongas in Berlin regelmäßig zu veranstalten: mittwochs ist Michael Rühl im Roten Salon anzutreffen, mit Pausen seit 1993, und samstags im Ballhaus Rixdorf seit 1998, dort zunächst zusammen mit Felix Hahme und kräftiger Unterstützung eines Tangoclubs. Daneben hat er eines der größten Events mitinitiiert, die das Tangojahr den Besessenen so zu bieten hat: das Tangofestival Berlin. Das ist über das Jahr gesehen ein gewaltiges Pensum, das es zu stemmen gilt und ein nicht unbedeutendes finanzielles Risiko, bedenkt man, dass mit 400 m2 die größte regelmäßige Milonga Berlins das Rixdorf ihr Zuhause nennt. „Ich weiß noch, dass wir am Eröffnungsabend 185 Gäste hatten. Der Saal ist ja relativ teuer und wenn du eine Veranstaltung machst, zu der nur 90 Leute kommen, dann musst Du eben aus eigener Tasche was drauflegen“, fasst Michael Rühl die Problematik knapp, aber realistisch zusammen. Vielleicht ist es eben diese Mischung aus gesundem Skeptizismus und der leidenschaftlichen Beschäftigung mit dem Tango in jeder seiner Facetten, die dazu führen, dass er heute immer noch dabei ist. Die Investitionen, die er zu Beginn der Milonga und auch laufend immer wieder in den Saal im Ballhaus Rixdorf gesteckt hat, mögen den einen oder anderen Betreiber von Tangoveranstaltungen durchaus zum Schlucken bringen. „Wir haben die Bar gebaut, Gläser für mehrere hundert Leute besorgt und die Anlage gekauft. In so einen Laden kannst du ja keine Hifi-Anlage von zu Hause hinstellen. Nach und nach mussten wir auch Scheinwerfer dazukaufen, denn wenn im oberen Saal eine Filmproduktion war, die mehr Licht brauchte, war’s bei uns unten dunkel, weil nur noch vier Scheinwerfer übrig waren, das geht natürlich nicht.“

Roter Salon Foto: Torsten Moebis (2009)
Seine Anfänge als Tangotänzer liegen im Jahr 1984. Bei einer mehrmonatigen Brasilienreise faszinierten ihn die Paartänze, die es dort zu sehen gab. „Ich hab zu dem Zeitpunkt gut zehn Jahre als Saxophonist in einer Band gespielt, mein Geld nebenbei als LKW-Fahrer verdient und bin viel gereist: Afrika, Asien und eben auch Brasilien. Irgendwann kam ich von dort zurück und sagte mir, ‚So, jetzt willst du auch mal so was lernen.'“ Durch Zufall geriet er auf einen Tangoball, den Juan-Dietrich Lange auf dem Gelände der Ufa-Fabrik veranstaltete. Michael Rühl war sofort „hooked“, wie man so schön sagt. „Juan Dietrich und Annette haben dann jemanden für die Anfänger gebraucht, so kam ich später zum Unterrichten.“ Bis heute ist Rühl Juan-Dietrich übrigens treu geblieben, denn nach wie vor unterrichtet er regelmäßig im Estudio Sudamerica in Berlin-Mitte.
Zusammen mit dem Konzertveranstalter Wolfram Arton organisierte er erst Tangobälle im Jugendzentrum „Weiße Rose“ (Vgl. Tangodanza 03/2004) ab 1987/88, „wir hatten über 200 Gäste und haben über 70 Flaschen Sekt verkauft, die Leute waren damals regelrecht euphorisch.“ Es folgten Veranstaltungen in der „Pumpe“ in Schöneberg, 1991 die erste regelmäßige Milonga im Jazzclub „Schlot“, der damals noch an der Kastanienallee im Prenzlauer Berg beheimatet war und ab 1993 dann im Roten Salon der Volksbühne-am-Rosa-Luxemburg-Platz. Das Rixdorf folgte 1998.
Von Anfang an habe ihn einfach alles am Tango interessiert, Filme, Musik, Geschichte. „Der Tango hat mir was geboten, was ich hier nicht hatte. Er war exotisch, auch aufgrund der großen Entfernung, dem Eintauchen in eine völlig andere Welt und damit verbunden auch in eine andere Zeit. Jede neue Platte, die ich entdeckt habe, fand ich wieder faszinierend. So bin ich auf das Sammeln gekommen: ich wollte wissen, welche Orchester haben was gespielt, welcher Musiker ist vielleicht irgendwann ausgestiegen und hat ein eigenes Orchester gegründet.“ Der Wunsch, alles ganz genau wissen zu wollen, ist wohl die Eigenschaft, die den leidenschaftlichen Sammler Rühl am besten charakterisiert. Dazu gehört aber auch das Bemühen darum, dieses Wissen, das er selbst zusammengetragen hat, an andere weiterzugeben. „Ich hatte als DJ regelmäßig acht Koffer mit 700 CD’s dabei, mit denen ich umhergeirrt bin, aber das ist auf Dauer ja ein bisschen schwer. Ich hab auch nicht die Zeit und die Lust, das alles auf eine Festplatte zu kopieren. Jetzt, wo ich festgestellt habe, dass es im Roten Salon wieder Plattenspieler gibt, bringe ich einfach ein paar Platten mit und spiele mal Sachen, die es so auf CD gar nicht gibt.“
1995 wurde er mit seiner damaligen Tanzpartnerin Irmel Weber und dem Orquesta Tango Real zum Tangofestival nach Granada eingeladen. „Die haben da riesig aufgetischt“, erinnert sich Michael Rühl, „acht Orchester, sogar aus Finnland und Japan und diverse Tanzkompagnien aus Chile und Argentinien. Da dacht ich mir, so was gibt’s ja in Berlin gar nicht, obwohl da tangomäßig mehr los ist als in Granada.“ Gemeinsam mit seiner damaligen Freundin Jessica Serrano Buch beschloss er, diesem unzumutbaren Zustand ein Ende zu bereiten. Gleich im darauffolgenden Jahr fand das erste deutsche Tangofestival im Prater der Volksbühne in der Kastanienallee statt. „Eine Schülerin von mir arbeitete in der Volksbühne, die kannte den Intendanten.“ Das Festival war ein Riesenerfolg, „die Leute, die zum Konzert gingen, kamen anschließend gar nicht mehr auf den Ball, der war dann schon voll mit Leuten, die draußen angestanden hatten“, erinnert sich Rühl. „Besonderer musikalischer Höhepunkt war damals der Auftritt von Horacio Salgan mit Orchester, das war schon toll.“ Der Erfolgsdruck war im Jahr 1996 noch nicht ganz so hoch wie heute, offizieller Veranstalter war die Volksbühne und aufgrund der Theatersubventionen musste das Festival seine Kosten nicht zu 100% einspielen. „Wir haben ja nie im Bereich Kunst- und Kulturmanagement gearbeitet, da hatten wir gleich professionelle Hilfe.“ Im Jahr darauf sah die Lage schon nicht mehr ganz so rosig aus, denn aufgrund von Sparauflagen sah die Volksbühne von einer erneuten Veranstaltung des Festivals ab. Auch der Tod von Jessica Serrano führte erst einmal zu einer längeren Festivalpause. „Ich konnte ja nicht einfach so weiter machen, als wäre nichts passiert“, sagt Rühl.

Roter Salon, Foto: Torsten Moebis (2009)
Erst im Jahr 2002 gab es einen erneuten Anlauf, das Tangofestival in Berlin wiederzubeleben, in jenem Jahr in Zusammenarbeit mit Felix Hahme, in den Folgejahren dann in Eigenregie mit der Unterstützung unzähliger Helfer für die vielen Arbeiten, die neben der Planung und Buchung auch noch zu erledigen sind. Die Ausgewogenheit der Zusammenstellung von Musikern und Tänzern kann dabei für den Erfolg des Festivals durchaus zum Zünglein an der Waage werden: „Da man ja nicht auf seinem Angebot sitzen bleiben möchte, muss man herausfinden, was gut laufen würde. Was nutzt es mir, wenn ich meine Lieblingstänzer und -orchester gebracht habe, die riesige Kosten produzieren, die aber keiner sehen will.“ Persönliche Vorlieben müssen dabei zwar durchaus auch einmal hinter wirtschaftlichen Erwägungen zurückstehen, trotzdem sieht er es als sein Anliegen, auch eine gewisse Bandbreite dessen, was den Tango heute ausmacht, zu präsentieren. „Man kann die Leute auch für etwas interessieren, auf das sie von sich aus nicht gekommen wären.“
Neben all diesen für sich genommen schon mit gigantischem Aufwand verbundenen Aktivitäten, seinem zweiten Leben als Saxophonist einer der bekanntesten deutschen Ska-Bands, „Blechreiz“, – was nur wenigen Menschen in der Tangoszene bekannt ist, man denkt ja immer, die Leute seien gerade erst vom Himmel gefallen –, hat er jetzt erst mal vor, alle seine Tangoplatten durchzuhören. „40.000 Aufnahmen habe ich hier, die will ich sukzessive spielbar machen und auch die anderen Teile der Sammlung, die Bücher und Bilder erfassen und anderen Menschen zugänglich machen.“ Ein gewagter Plan, denn der Aufwand dafür allein reicht wohl für ein Menschenleben. Einen großen Reiz hätte für ihn auch die Idee, die beiden Welten, sein Musiker-Dasein und das als Tango-DJ, zu verbinden. „Vielleicht nicht gerade den Ska mit dem Tango zusammenzubringen, das passt ja nun gar nicht. Aber ich fände es spannend, selbst einmal Clubbeats mit Tango zu kombinieren.“
Und wenn denn zufällig jemand auf die Idee käme, ihn darauf anzusprechen, eine ungewöhnliche CD-Edition aus seiner Sammlung zu kompilieren oder entsprechende Texte für ein Buch aufzubereiten, so wäre er prinzipiell dafür zu haben. Um das selbst zu machen, fehlt ihm aber wohl die Zeit, wie er sagt. Wen wundert’s auch …
Das letzte Tango Festival Berlin fand 2013 statt.
Erstveröffentlichung: Tangodanza Nr. 38, Ausgabe 2-2009